Als Yogis werden wir oft gefragt, was Yoga denn überhaupt ist. Gern haben wir dann die „klassische” Antwort parat: Yoga ist die Einheit von Körper, Geist und Seele.
So steht es in vielen Büchern – aber stehst Du selbst hinter dieser Antwort? Hast Du sie jemals hinterfragt oder musstest sie genauer erklären? Wie heißt es eigentlich „richtig“: Yoga üben, Yoga praktizieren oder Yoga leben?
Zunächst lässt der Wunsch nach Einheit vermuten, dass sich Körper, Geist und Seele irgendwie voneinander entfernt haben. Dabei kann der Geist doch ohne Körper nicht leben, ebenso wenig wie der Körper ohne Seele existieren kann. In diesem Sinne steckt hinter dem Begriff der Einheit wohl eine etwas andere Bedeutung.
Yoga – Sanskrit, योग, yoga; von yuga „Joch”,
„yuj” für: „anjochen”, „anspannen”, „anschirren”
Alle ziehen an einem Strang
Vielmehr geht es darum, dass alle drei an einem Strang ziehen – was allerdings nicht immer klappt.
Der Körper hat schon mal seine Wehwehchen. Da sind Kraft oder Beweglichkeit eingeschränkt, ab und an sind wir verschnupft – jedenfalls kann der Körper nicht so, wie der Geist gern möchte. Auch der Geist schwächelt bisweilen. Manchmal sind wir einfach nicht bei der Sache, unkonzentriert, irgendwie abwesend. Dann sind wir – vielleicht trotz körperlicher Fitness – nicht in der Lage, Höchstleistungen zu bringen. Ebenso kann uns unsere seelische Verfassung ausbremsen – wenn wir verstimmt, traurig, in Trauer oder depressiv sind.
Dabei ist es mit dem Begriff der Seele nicht ganz so einfach, weil er von religiösen und philosophischen Konzepten überlagert ist. Im heutigen Sprachgebrauch wird Seele oft mit Psyche gleichgesetzt, allerdings ohne die transzendenten Elemente – also reduziert auf die geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale.
Zur Kultivierung dieses Dreiklangs von Körper, Geist und Seele/Psyche bietet Yoga passende Techniken an: Asanas für den Körper, Meditation für den Geist und Pranayama für die Seele/Psyche.
Asana für den Körper
Auch wenn die Asanas nur EIN Aspekt des Yoga sind, dominieren sie im Westen die Yogapraxis derart, dass Yoga nicht selten als Sport gesehen wird.
Sadhguru, ein bekannter indischer Yogi und Mystiker, schreibt in seinem Buch Die Weisheit eines Yogi „yoga is not an exercise” – und dennoch versuchen wir uns mitunter an schwierigen Asanas, die monatelange Übung erfordern. Wenn das keine „exercises” sind, was dann?
Vielleicht müssen wir uns vor Augen führen, wozu „exercises” (also Übungen) normalerweise dienen. Im Sport wollen wir mit Übungen unseren Körper trainieren, um z. B. Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer zu verbessern. Das möchten wir im Yoga ausdrücklich nicht. Die Zielsetzung ist eine andere: Wir wollen unser Bewusstsein entwickeln – unser Körperbewusstsein. Es geht um eine achtsame Ausführung mit Sinn für Mechanik und Körpergefühl, nicht um Belastung und Wiederholung spezifischer Übungen.
Meditation für den Geist
Um den Geist zu zügeln, gibt es mehrere Stufen der Meditation. Pratyahara als Vorbereitung wird oft mit „Rückzug der Sinne” übersetzt, eine Beschränkung der Sinne ist damit aber nicht gemeint. Eine treffende Übersetzung wäre eher ein Zustand der Sammlung – in dem wir nicht durch unsere Sinne abgelenkt sind. Darauf folgt Dharana, eine Phase der Konzentration (vorzugsweise auf einen bestimmten Punkt, ein Mantra oder die Atmung) und wie von selbst, ohne weiteres Zutun, Dhyana, die Meditation.
Manchmal hört man, Yoga bzw. Meditation diene dazu, den Geist zur Ruhe zu bringen. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass wir nicht mehr denken sollen. Im Gegenteil: Sadhguru betont, dass Nachdenken, auch über Vergangenheit und Zukunft, von Nutzen ist. Schon allein, um aus der Vergangenheit zu lernen und die Zukunft gestalten zu können – aber alles zu seiner Zeit. Der Geist solle sich nur nicht selbstständig machen, sondern uns „dienen”. In der Meditation holen wir den Geist zurück ins Jetzt. Yoga, als Meditation in Bewegung, meint die achtsame Ausführung von Körperhaltungen – mit voller Aufmerksamkeit.
Pranayama für die Seele/Psyche
Psyche und Gefühlswelt sind aufs Engste verbunden und an das vegetative Nervensystem gekoppelt, das über die Atmung beeinflusst werden kann. Daher können wir mit Atemtechniken (Pranayama) regulierend auf unsere psychische Verfassung einwirken. Bhastrika (die Blasebalgatmung) und Kapalabhati (die Feueratmung) regen beispielsweise den Sympathikus an und wirken anregend, während die Ujjayi-Atmung – die sich wie ein sanftes Meeresrauschen anhört – den Parasympathikus aktiviert und somit beruhigend wirkt.
Bewusstsein
Als höher entwickelte Lebewesen verfügen wir über ein gedankliches Bewusstsein. Wir haben eine Vorstellung über Wirkzusammenhänge, können uns an Erfahrungen erinnern und planen. Wir sind in der Lage, unsere Zukunft zu gestalten und Verantwortung für unser Leben zu übernehmen. Das Leben in die Hand nehmen – das ist Yoga.
Mit dem Selbstbewusstsein – dem Wissen, dass wir existieren und über ein Bewusstsein verfügen – entwickelt sich auch das Individualbewusstsein – das Wissen um die eigene Einzigartigkeit, aber auch um die Andersartigkeit anderer Lebewesen.
Yoga dient dazu, einen höheren Bewusstseinszustand zu erreichen und dabei zu erkennen, dass wir nicht losgelöst von allem anderen existieren. Vielmehr sind wir eins mit unserer Umwelt und allen anderen Lebewesen. Wir sind alle aus der gleichen Quelle des Lebens geboren – wie auch immer man sie nennen mag – und werden von Mutter Erde am Leben gehalten. Alles was wir unserer Erde antun, fällt somit unweigerlich auf uns selbst zurück.
Mit dieser Einsicht wird Yoga zu so viel mehr als Asana, Meditation und Pranayama – es wird zu einer Lebenshaltung, die zu wohlwollendem Umgang mit unseren Mitmenschen und anderen Lebewesen, genügsamer Verwendung von Ressourcen und bewusster Ernährung führen kann.